Levantiner in Konstantinopel

1. Der Terminus "Levantiner" und die Genese einer ethnokonfessionellen Gruppe

Der Terminus "Levantiner" wird erst in jüngster Zeit von der Forschung in einheitlicher Form verwendet worden. Im 19. Jhd. kristallisierte sich eine Verengung des Begriffs heraus, der nicht mehr alle nichtmuslimischen Bewohner ostmittelmeerischer Hafenstädte bezeichnet, sondern nur noch die überwiegend europäischstämmigen Katholiken des römischen Ritus.

Die Levantiner unterscheiden sich von den anderen ethnokonfessionellen Gruppen des osmanischen Reiches vor allem durch ihren supranationalen Charakter. Im Gegensatz etwa zu orthodoxen Griechen und den Armeniern unternahmen sie auch nicht ansatzweise den Versuch, eine gemeinsame ethnische Herkunft zu beanspruchen. Im Gegenteil, die wenigen Selbstaussagen von Levantinern, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind, betonen den ethnischen Mischcharakter der Gruppe und bestätigen damit ein in der europäischen Publizistik der Zeit gängiges Klischee. Dieses Bild gilt es anhand der Quellen kritisch zu hinterfragen. Die Register der katholischen Pfarreien bieten die Daten, die zur Rekonstruktion der Genese einer übernationalen Gruppe benötigt werden. Die Genese der Levantiner erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte und blieb bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein äußerst dynamischer Prozess. Die Levantiner bieten dabei das Beispiel einer nur sozioökonomisch und kulturell, nicht aber politisch und verfassungsrechtlich existenten Gruppe, die trotz dieses – vermeintlichen - Nachteils faktisch – denn eine bewusste Assimilation der Neuzuwanderer aus Europa wurde nicht betrieben – eine ausgeprägte Integrationskraft aufwies.

2. Die Inselkatholiken und die Peroten

Die Entstehung der Gruppe lässt sich in mehrere zeitliche Etappen gliedern: am Anfang standen die Nachfahren italienischer, vorwiegend venezianischer und genuesischer Kaufleute und Siedler, die sich vor und vor allem nach dem vierten Kreuzzug im Ägäisraum niedergelassen hatten und nach der osmanischen Eroberung Konstantinopels in der Levante geblieben waren; zum einen als osmanische Untertanen bzw. rechtlich privilegierte Ausländer, zum anderen als Bewohner der bis in das 17. Jahrhundert, im Falle von Tinos bis 1718, venezianisch beherrschten Ägäisinseln. Dieser ägäische Katholizismus griechischer Kulturprägung spielte auf den Inseln Chios, Naxos, vor allem aber Tinos, Syros und Santorin eine sehr bedeutende Rolle; viele katholische Orden, von den Kapuzinern bis zu den Lazaristen, waren in der Levante aktiv. Diese gräzisierten Inselbewohner sollen im folgenden als Inselkatholiken bezeichnet und so von den sog. Peroten, den katholischen Bewohnern des Konstantinopler Vororts Pera, unterschieden werden. Während die Inselkatholiken sich in Sprache und Lebensweise kaum von den orthodoxen Bewohnern der Inseln unterschieden und in der Regel in der Seefahrt, der Fischerei, dem einfachen Handwerk – oft als Wanderarbeiter – und der Landwirtschaft tätig waren, dominierten in Pera Geschlechter, die sich auf genuesische Patrizierfamilien zurückführten und als Dragomane/Übersetzer bei den europäischen Gesandtschaften und bis zum endgültigen Aufstieg der Phanarioten auch bei der Pforte die Orientpolitik der Mächte im wesentlichen prägten. Durch Heiratsbündnisse eng miteinander verflochten, bildeten sie eine kompakte Gruppe, die den Anspruch auf adligen Rang nach europäischem Muster erhob; auch sie sprachen Griechisch und folgten in Kleidung und Sitten einheimischen Vorbildern. Im späten 17. und besonders im 18. Jahrhundert erfolgte durch das Auftreten der Seemächte England und Holland und das verstärkte wirtschaftliche Engagement Frankreichs, seit dem 16. Jahrhundert offizielle Schutzmacht der Levantekatholiken, eine erste Erweiterung der Gruppe, sowohl zahlenmässig wie auch räumlich. In Pera blieb die Diplomatie Schwerpunkt der katholischen Bewohner, in Smyrna dominierte eindeutig der Handel. Um 1800 bildeten die Levantiner in Pera und dem Hafenviertel Galata eine verhältnismässig kleine 2400 Personen zählende Gemeinschaft. Um 1900 lebten in Galata- Pera rund 60.000 Levantiner und Europäer, d.h. rund 3% der Stadtbevölkerung. Dieser Zuwachs ist das Ergebnis einer massiven Zuwanderung vor allem aus Europa, doch auch von den Inseln, aus Kleinasien und dem Nahen Osten.

3. Die katholischen Zuwanderer

Im 19. Jahrhundert verschmolzen durch Heiraten katholische Zuwanderer aus Europa mit katholischen Migranten aus dem Ostmittelmeerraum – Dalmatiner, Maltesen und Ionier – und katholischen bzw. unierten Armeniern und Arabern, die vor Krieg, Verfolgung und wirtschaftlicher Not nach Konstantinopel abgewandert waren. Dieser Verschmelzungsprozess dauerte beinahe ein Jahrhundert lang und war erst um 1900 weitgehend abgeschlossen. Die Heiratsregister der Pfarreien belegen, dass die katholischen Zuwanderer aus Ost und West ein in unterschiedlichem Masse hohes Endogamieverhalten zeigen: besonders die ostmediterranen Zuwanderer, v.a. die Maltesen, bildeten noch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kompakte Herkunftsgemeinschaften.

Die Zuwanderer aus Europa gelangten aus unterschiedlichen Motiven in den osmanischen Ägäisraum; daher ist ihr Integrationsverhalten differenziert zu betrachten. Seit der französischen Revolution ist die Einwanderung ein Spiegel der europäischen Geschichte: auf französische Royalisten folgten Anhänger Napoleons – darunter etwa sein Polizeiminister Savary -, dann aber polnische und ungarische Emigranten und italienische Carbonari, Mazzinianer und Garibaldisten. Häufig war der Unterschied zwischen politischen Emigranten und Kriminellen fliessend. Der Abenteurer ist ein eigener ostmediterraner Typus, der eine genauere Untersuchung verdiente. Das fluktuierende Bevölkerungselement ist in den typischen Hafenstädten wie Galata nicht zu unterschätzen. Mit dem Beginn des Tanzimat verbesserten sich die Lebensumstände von Christen im osmanischen Reich, und zugleich wuchs der Bedarf an europäischen Spezialisten für die Modernisierung des Reichs, diese wiederum benötigten für die Fortführung eines europäischen Lebensstils, der auch von der einheimischen, besonders der nichtmuslimischen Elite übernommen wurde, eine grosse Zahl von beruflich spezialisierten Zuwanderern - vom Friseur bis zum Kutschenbauer. Diese Einwanderer waren überwiegend Männer – man geht von einem Verhältnis von 5:1 Männer: Frauen aus. Viele von ihnen blieben im osmanischen Reich und heirateten einheimische Katholikinnen. Franzosen, Briten, Deutsche wurden so innerhalb von einer Generation in die einheimische katholische Gemeinschaft integriert und kulturell - durch sprachliche Gräzisierung - assimiliert. Die Zuwanderer aus Südeuropa, v.a. Italien, wurden durch Heiraten derart rasch assimiliert, dass im Jahre 1905 in einer Konsulatsstatistik von Konstantinopel 75% der Inhaber eines italienischen Passes als Levantiner bezeichnet wurden. Um 1900 waren die letzten Reste endogamer Inseln innerhalb der katholischen Gemeinschaft weitgehend verschwunden. Der Männerüberschuss und die schwindende ideologische Bindekraft der katholischen Kirche führten zu einer Expansion in das griechisch- orthodoxe und armenische, in geringerem Masse in das jüdische Milieu. Konfessionelle Mischehen nahmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr stark zu. Um 1900 waren durch die Vermischung katholischer Europäer, Peroten und Inselkatholiken mit arabischen und armenischen Katholiken und den ostmediterranen Zuwanderern sowie Angehörigen der nichtmuslimischen Millets eine Gruppe entstanden, die jeden Herkunftscharakter verloren hatte und sich durch die katholische Konfession, einen betont europäischen Lebensstil – besonders sichtbar in der materiellen Kultur: Konsumgüter, Kleidung und Wohnung – und eine besondere Rechtsstellung auszeichnete.

4. Die Rechtsstellung der Levantiner

Diese Rechtsstellung war keine Eigentümlichkeit der Levantiner, da auch Angehörige der orthodoxen, armenischen und jüdischen Millets verschiedenen rechtlichen Kategorien angehören konnten. Die Levantiner unterschieden sich aber von diesen Gruppen dadurch, dass sie in der Regel eine privilegierte Rechtsstellung besassen. Levantiner sind katholische Christen, die im islamischen Machtbereich dauerhaft leben und sich daher dem islamischen Staats- und Gesellschaftsmodell anpassen müssen. Das islamische Recht unterscheidet bei Nichtmuslimen zwischen steuerpflichtigen Untertanen (zimmis oder reayas) und von Abgaben befreiten Ausländern, die freilich nur eine beschränkte Zeit Wohnsitz im islamischen Machtbereich haben dürfen (sog. Harbis). Von Anfang an, d.h. seit 1453, gehörten Levantiner beiden Kategorien an, denn Mehmed II. betrachtete die nach der Halosis in Galata verbliebenen Franken, d.h. Genuesen, als osmanische – kopfsteuerpflichtige – Untertanen. Nur zeitweilig sich aufhaltende genuesische Kaufleute galten aber als Harbis, ebenso die Venezianer, mit denen Mehmed II. 1454 einen Handelsvertrag abschloss, in dem modellhaft für spätere Abkommen gleichen Typs mit Frankreich, England, den Niederlanden, Preussen, Österreich, Schweden usw. die besonderen Vorrechte der Harbi- Franken festgelegt waren, Vorrechte, die auf diplomatischen Druck der europäischen Mächte im Laufe der Zeit eine immer weitere Ausdehnung erfuhren und zu Beginn des 19. Jahrhunderts folgende Elemente umfassten: Steuerfreiheit, konsulare Gerichtsbarkeit bei Streitfällen zwischen zwei Ausländern, im 19. Jahrhundert gemischte Gerichte bei Streitfällen zwischen Osmanen und Ausländern: de facto also wurden Ausländer dem osmanischen Rechtssystem entzogen; polizeilicher Zugriff der osmanischen Behörden auf Ausländer nur in Anwesenheit eines Diplomaten, Schutz des Domizils. Diese Privilegien wurden bald auch auf die osmanischen Angestellten der europäischen Konsulate und Gesandtschaften ausgedehnt, was v.a. die Dragomane, unter ihnen viele Levantiner, betraf. Als sog. Schutzgenossen/Protégés konnten sie diese Privilegien auf ihre Familie übertragen und sogar vererben. In der zweiten Hälfte des 18. Jhd.s und der ersten Hälfte des 19. Jhd.s verteilten bzw. verkauften die europäischen Diplomaten derartige Schutzbriefe auch an Reayas, die nicht im diplomatischen Dienst standen. Nach den osmanischen Bezeichnungen der Schutzbriefe wurden diese privilegierten Personen als Fermanlı bzw. Beratlis/Barattario/barataire bezeichnet. Viele levantinische, orthodoxe, armenische und jüdische Zimmis erwarben derartige Schutzbriefe, die europäischen Mächte bauten zudem durch eine grosszügige Vergabe Anhängerschaften im osmanischen Reich auf. In der ersten Hälfte des 19. Jhd.s gestaltete sich der Erwerb, aber auch der Wechsel der Schutzgenossenschaft ausserordentlich leicht. Dies öffnete einem opportunistischen Verhalten Tür und Tor: geschickte Zimmis wechselten den Schutz je nach Einfluss und Strenge des Rechtssystems der jeweiligen Macht. Doch nicht alle Levantiner kamen in den Genuss derartiger Privilegien. Die levantinischen Zimmis – überwiegend Inselkatholiken sowie katholische Araber und Armenier - bildeten kein Millet und hatten daher keine von der Pforte anerkannte Vertretung. Die katholische Amtskirche pflegte keine offiziellen Beziehungen zur osmanischen Regierung, dies wurde traditionell von der französischen Botschaft übernommen. Durch die Zuwanderung von Zimmi-Katholiken aus Kleinasien und dem arabischen Raum und die Schaffung eines armenisch- katholischen Millets (1831) stellte sich die Frage nach der Rechtsstellung dieser Gruppe. Gelöst wurde sie auf Betreiben des apostolischen Vikariats von Konstantinopel zu Beginn der vierziger Jahre durch die Schaffung einer „Gemeinschaft der lateinischen Rayas“ unter einem Vekil, der in Galata-Pera erblich von der Familie Vartalithi gestellt wurde. Da die Latin rayası kein Millet bildeten, war ihre Stellung von Anfang an her schwach, und ihre Angehörigen bemühten sich weiterhin um europäische Schutzbriefe. Die rechtliche Zersplitterung der Levantiner auf vollwertige Harbis, Schutzgenossen und Zimmis verhinderte ein gemeinsames politisches Agieren der Gruppe, politische Bestrebungen nach dem Vorbild der geschlossen auftretenden orthodoxen Griechen und gregorianischen Armenier vermochten die Levantiner auch nicht ansatzweise zu entwickeln. Individuell bemühten sie sich um einen sozioökonomischen Aufstieg durch Erlangung europäischer Papiere.

5. Die gesellschaftliche Struktur der Levantiner

Die gesellschaftliche Struktur der Levantiner war durch das rasante Wachstum der Gruppe im 19. Jhd. einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Schon um die Mitte des 19. Jhd.s war die soziale Ausdifferenzierung vormals kleiner kompakter katholischer Kaufmanns- bzw. Dragomangemeinschaften weit vorangeschritten: früher als die Griechen und Armenier bildeten die Levantiner ein Wirtschaftsbürgertum nach europäischem Vorbild, das materielle Kultur und Lebensstil des bewunderten Modells Frankreich nachahmten. Der Aufschwung des Handels ermöglichte vielen ärmeren Handwerker- und Händlerfamilien den sozialen Aufstieg, gleichzeitig wurden die alten Dragomangeschlechter in den Hintergrund gedrängt: in der Diplomatie wurden sie durch europäische Karrierediplomaten mit orientalistischer Ausbildung (man denke nur an einen Hammer- Purgstall) verdrängt, ihr Adelsdünkel hielt sie vom Handel fern. Nach dem Vorbild des europäischen Adels verbanden sich einige Familien mit den sozialen Aufsteigern aus Handel und Bankwesen. Vor dem Auftreten der europäischen Grossbanken nach dem Krimkrieg und besonders nach der Grossen Orientkrise bildeten die sog. Galata Bankers den Kern der osmanischen Finanzwelt; in diesem Rahmen pflegte die levantinische Finanzelite enge Kontakte zu den griechischen, armenischen und jüdischen Bankiers des Reiches. In der zweiten Hälfte des 19. Jhd.s vergrösserten Zuwanderer aus Europa, hohe Beamte, Offiziere, Ingenieure, Bankiers, Grosskaufleute, diese Elite, grenzten sich aber nicht selten deutlich gegen die levantinische Oberschicht ab, was sich u.a. in einer Verschärfung des europäischen Levantinerdiskurses widerspiegelt. Die Zuwanderung beförderte auch die Ausbildung einer um 1800 noch kaum vorhandenen Mittelschicht aus Fachhandwerkern, Ladenbesitzern, Lehrern und neu: Freiberuflern wie Anwälten, Ärzten und Journalisten, die alle die Nachfrage nach Attributen europäischen Lebens im osmanischen Reich befriedigten. Die Unterschicht wuchs aber durch die Zuwanderung von maritimem Proletariat an, das durch den engen Kontakt zur griechischen Unterschicht teilweise assimiliert, d.h. gräzisiert wurden. Ähnliches gilt für das besonders im Krimkrieg explosionsartig gewachsene kriminelle Milieu in Galata und Pera.

6. Die gruppenkonstitutiven Elemente

Die bisher vorgestellten ethnischen, rechtlichen und sozialen Charakteristika der Levantiner, die alle eher auf Verwerfungslinien denn auf einigende Momente hindeuten, werfen die Frage nach den gruppenkonstitutiven Elementen auf. Was machte die Levantiner, die kein Millet bildeten, sondern politisch und rechtlich zwischen dem osmanischen Staat und den europäischen Mächten oszillierten, zu einer Gruppe? Zunächst und vor allem die Konfession, die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche des römischen Ritus, die sie auch von den unierten Armeniern und Arabern abhob und in den Augen der osmanischen Gesellschaft zu „Franken“ machte, die im 18. und besonders im 19. und 20.Jhd. ein hohes Sozialprestige genossen, das sich aus ihrer privilegierten Rechtsstellung und im 19./20.Jhd. aus dem Vorbildcharakter der europäischen Kultur und Lebensweise speiste. In einer konfessionell organisierten Gesellschaft wie dem osmanischen Reich bildete der Glaube das zentrale Moment der rechtlichen Zugehörigkeit und der Identität. Als kleine und lange Zeit nicht nur von den Muslimen, sondern v.a. von den Orthodoxen und den Armeniern bedrohte Gruppe - das gilt besonders für die katholischen Zimmis, die die Dienste der christlichen Millets z.B. für Prozesse und Begräbnisse in Anspruch nehmen mussten - wirkte die katholische Konfession als ausserordentlich starkes Moment der Identität. Die alteingesessenen Levantinerfamilien1 pflegten bis weit in das 20. Jhd. hinein eine ausgeprägte Treue zur Amtskirche und setzten sich so von den Zuwanderern aus Europa deutlich ab. Ihren Katholizismus lebten die Levantiner nicht nur in den Gottesdiensten, vielmehr bekleideten die alten Geschlechter und die Elite der Neuzuwanderer die wichtigsten Ämter in der grossen Zahl von Laienbruderschaften und katholischen Vereinen, die nach dem Krimkrieg eine grosse Blüte erlebten. In Pera gruppierte sich um die alte Comunità von S. Anna der Kern der Dragomanfamilien, im 19. Jhd. wurde die karitative Vereinigung Artigiana di Pietà gegründet, die vom Sultan und den Botschaftern unterstützt wurde und der levantinischen, europäischen, aber auch der osmanisch- christlichen Elite als Plattform der Kommunikation diente. Diese katholische Infrastruktur umfasste insbesondere auch ein gut ausgebautes Schulwesen, Krankenhäuser, Armen- und Altenasyle und bot der levantinischen Elite ein weites Welt des sozialen und karitativen Engagements nach europäischem, aber auch einheimischen Vorbild - man denke besonders an die parallelen Einrichtungen der Griechen und Armenier.

Ein Bindeglied von kaum zu überschätzender Bedeutung waren die Verwandtschaftsbeziehungen; die meisten auswärtigen Beobachter stimmen darin überein, dass der Familiensinn der Levantiner „bis ins Extrem getrieben sei“. Bis zum Ende des 19. Jhd.s kam es mit Ausnahme der Unterschicht kaum zu konfessionellen Mischehen; dafür pflegten die Dragoman- und Kaufmannfamilien eine gezielte Heiratspolitik; die genealogische Forschung hat umfangreiche Beziehungsnetzwerke freigelegt, die im wesentlichen die Gruppe trugen und ausmachten. Eng mit diesen familiären Beziehungen verbunden war die Zusammenarbeit im Geschäftsleben besonders in Konkurrenz zu den orthodoxen Griechen, Armeniern und Juden. Die Handelsalmanache von Konstantinopel listen hiefür zahlreiche Beispiele auf. Konfession, Familie und Geschäft waren konstitutive Elemente der Gruppe.

7. Die interkonfessionellen Kontakte

Trotz einer fehlenden rechtlichen Klammer existierten die Levantiner als soziale und wirtschaftliche Einheit und sind in diesem Sinne mit den christlichen Millets zu vergleichen.

Als von der Aussenwelt deutlich als eigene Einheit aufgefasste Gruppe traten die Levantiner im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben des Reiches auf. Besonders im Geschäftsleben und im öffentlichen Raum gestalteten sich die Beziehungen zu sozial gleich gestellten Angehörigen der nichtmuslimischen Millets eng: die Börse von Galata, die gemischten Gerichte, die Handelskammern, die im 19. Jhd. eingerichteten Kasinos, die neuen europäischen Hotels, Restaurants, Lektüreclubs und Cafés, die Parks von Pera waren Schauplätze der Elitenkommunikation. Am unteren Ende der sozialen Skala trafen Levantiner und Angehörige anderer ethnokonfessioneller Gruppen in den Schenken, Kaffeehäusern, Mietwohnungen und Bordellen der Hafenviertel zusammen.

Von entscheidender Bedeutung für die Intensivierung des interkonfessionellen Kontakts war die Auflösung konfessionell homogener levantinischer Viertel. Die Adressverzeichnisse von Pera etwa belegen, dass um 1900 selbst auf der Ebene der Strasse und des Mehrfamilienhauses keine ethnokonfessionellen Schranken mehr bestanden. Entscheidend war das Kriterium der sozialen Zugehörigkeit, so lebten in Strassen der Mittelschicht levantinische, griechische, armenische und jüdische Angestellte und Freiberufler zusammen. Wahrnehmbar sind jedoch gewisse Präferenzen, so war der Kontakt zwischen den gräkophonen Levantinern und Orthodoxen wesentlich intensiver als etwa zwischen Levantinern und Armeniern, die soziale Distanz zu den sephardischen Juden war grösser als zu den neuzugewanderten, sich europäischer gebenden Aschkenasen aus Mittel- und Ostmitteleuropa. In der Kommunikation mit Angehörigen anderer ethnokonfessioneller Gemeinschaften genossen die Levantiner zwar das Prestige des Europäertums, als Vermittler europäischer Kultur, hier: als Motor allgemein der Modernisierung der osmanischen Gesellschaft, kann man sie jedoch kaum bezeichnen. Sie nahmen eine Vorbildrolle bei der Übernahme der materiellen Kultur Europas - besonders in der Mode - ein, die Vermittler von Fachwissen in Verwaltung, Militär, Industrie, Unterrichtswesen usw. und die eigentlichen Schrittmacher der Modernisierung waren aber neuzugewanderte Spezialisten aus Europa, die bewusst als Europäer auftraten und sich von den Levantinern scharf abgrenzten.

8. Die Identitätsstrategien der Levantiner

Als verfassungsrechtlich inexistente Gruppe sind die Levantiner ein Beispiel für eine äusserst flexible und geschmeidige Anpassung an sich rasch verändernde politische, rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Diese Flexibilität kennzeichnet aber nur die äussere Identität der Levantiner, d.h. die Strategie in der Kommunikation mit den europäischen bzw. osmanischen Behörden, von deren Wohlwollen die privilegierte Rechtsstellung der Levantiner abhing. Weitgehend unberührt blieb die innere Identität, die Loyalität zur Konfession und zur verwandtschaftsmässig definierten Gruppe. Diese innere Loyalität ist in den Quellen schwer fassbar, da sie vor den Behörden, aus deren Amtsstuben die Nachrichten zu den Levantiner fast ausschliesslich stammen, verborgen werden musste. Schliesslich ist zu differenzieren zwischen dem Verhalten der Gruppe und der einzelnen Individuen, diese Kategorien gliedern die folgenden Bemerkungen. Für die Identitätsstrategien der Levantiner ist von der Pariser Historikerin Marie-Carmen Smyrnelis der Begriff des „Spiels der Identitäten“ verwendet worden. Dieses Spiel ist durch die Existenz in und zwischen zwei politischen Systemen unter optimaler Ausnützung von deren Vorteilen gekennzeichnet.

Neben die Elemente der inneren Identität der Levantiner - Glaube und Verwandtschaftsbeziehungen – treten die Faktoren Raumbezug und Sprache. Eine innere Verbundenheit zum unmittelbaren Lebensraum ist unverkennbar, doch geht sie nicht über das Stadtviertel und die Stadt hinaus. Die Peroten interessierten sich nur wenig für das Schicksal der Smyrnioter Levantiner - und umgekehrt, dies trotz verwandtschaftlicher und geschäftlicher Beziehungen. Diese räumliche Fragmentierung wurde nie überwunden und behinderte die zaghaften Ansätze politischer Emanzipation. Die lebensräumliche Umgebung bot nur eine lokale Identität und kam als konstitutives Element der Gesamtgruppe nicht in Frage.

Genauso wenig spielte eine gemeinsame Sprache eine Rolle; vielmehr war die Mehrsprachigkeit - in der Regel Griechisch, Italienisch, Französisch und Türkisch- an der Tagesordnung, wobei die Bedeutung und Funktion im Laufe des 19. Jhds. Änderungen unterworfen waren, so lief das Französische der alten Umgangssprache der Levante, dem Italienischen, nach 1850 den Rang ab. Am ehesten ist das Volksgriechische als Sprache der Levantiner zu bezeichnen. Überhaupt standen die orthodoxen Griechen den Levantinern von allen ethnokonfessionellen Gruppen des osmanischen Reiches in Sprache und Mentalität am nächsten. Frankochiotika-Texte wurden für kirchliche Zwecke sogar gedruckt, daneben finden sich Privatbriefe, Lieder und sogar Verträge in dieser Sonderform des Griechischen, die im Gegensatz zu der von den Orthodoxen kultivierten Reinsprache sprachlich innovativ, weil einer modernen gepflegten Dimotiki sehr nahe, war.

Bis in die sechziger Jahre des 19. Jhd.s entwickelte sich die Gruppe mit den genannten Charakteristika ohne grössere äussere Beeinträchtigungen. Die Frage einer Präzisierung ihrer Identität und ihrer Stellung im Spannungsfeld von osmanischem Reich und ihren Schutzmächten stellte sich nicht. Der Wechsel von Staatsangehörigkeit und Schutzverhältnis ganz nach persönlichem – rechtlichem und geschäftlichem – Vorteil war eine gängige Erscheinung. Die osmanischen Reformer und die europäische Diplomatie fanden aber schliesslich ausnahmsweise zusammen, um diesen offenkundigen Missbräuchen einen Riegel zu schieben, und schränkten 1863 den Protégéstatus massiv ein – verliehen wurde er nur noch den tatsächlichen osmanischen Angestellten im diplomatischen Dienst und zwar ad personam und nur für die Dauer der Dienstzeit - und 1869 führte das osmanische Reich eine eigene Staatsbürgerschaft ein. Diese Massnahmen wurden von beiden Seiten ergriffen, um rechtliche Grauzonen zu beseitigen und das von Pflichten losgebundene Profitieren von Vorzügen beider Systeme zu unterbinden. Gleichzeitig übertrugen die europäischen Mächte das europäische Konzept des Nationalstaates auch auf ihre Konationalen im osmanischen Reich und schufen den Nationalisierungsdruck auf ihre „Kolonien“ (Niederlassungen) in Galata und Pera, indem diese durch den Aufbau einer nationalen Infrastruktur (Schulen, Krankenhäuser, Handelskammern, Vereinswesen, Freizeitgestaltung) zu straff organisierten Vertretungen der jeweiligen Machtinteressen umgestaltet wurden. Wer kein klares Bekenntnis zu der neuen nationalen Identität ablegte, drohte aus der „Kolonie“ ausgeschlossen zu werden und zum osmanischen Untertanen herabzusinken - und dies war stets die grösste Furcht der Levantiner. Ebenso machtlos standen sie der Unterhöhlung der Kapitulationen durch die osmanischen Behörden gegenüber. Den Tanzimatreformen vermochten sie kaum positive Seiten abzugewinnen, da jede Modernisierung von Staat und Gesellschaft die Beseitigung der für die Levantiner so wichtigen Privilegien nach sich zog. Da die levantinische Elite Spitzenpositionen in den nationalen Kolonien übernommen hatte, fehlte ihr das Interesse, sich für die Gesamtgruppe einzusetzen. Das Fehlen einer Gruppenführung erleichterte den rasch voranschreitenden Prozess der – äusserlichen - Ethnisierung und identitätsmässigen Assimilierung der Levantiner an die jeweilige Schutzmacht. Kurz nach 1900 waren auch die übernationalen kirchlichen Strukturen von diesem Wandel erfasst worden. Das Bekenntnis zum Nationalstaat war eine zweckorientierte Botschaft, die adressatengerecht kommuniziert wurde. An der soziokulturellen Realität, der Weiterexistenz der Gruppe im Alltag, änderte sich bis zum Beginn des 20. Jhd.s nur wenig. Am Vorabend des ersten Weltkrieges war der Spielraum der Levantiner zwischen den beiden Systemen jedoch beinahe verschwunden: verschärfte Passgesetze der Mächte machten den Erwerb einer europäischen Staatsangehörigkeit von der Wohnsitznahme im entsprechenden Land abhängig, der Protégéstatus vermochte kaum noch vor den Übergriffen der osmanischen Behörden zu schützen, das Wechseln des Rechtsstatus war angesichts der genauen Kontrolle durch die osmanischen und europäischen Behörden kaum mehr möglich.

Spätestens als unter den Jungtürken die Ethnisierung und Nationalisierung des osmanischen Staates in eine entscheidende Phase getreten war, als die Abkehr von der konfessionellen Gesellschaftsstruktur sich ankündigte, war das Ende der Levantiner absehbar. Jetzt rächte es sich, dass sie stets zwischen beiden Systemen laviert hatten. Im Gegensatz zu anderen christlichen Gruppen im osmanischen Reich, so etwa den orthodoxen Griechen, den gregorianischen Armeniern, den Bulgaren und sogar den Aromunen gelangten die Levantiner nicht zu einer auch nur ansatzweisen Ausbildung einer eigenen Nation. Begründet lag dies in ihrer rechtlichen Zwischenstellung zwischen dem osmanischen Reich und ihren Schutzmächten; dann fehlten ihnen auch sonst alle wesentlichen Voraussetzungen: eine ausreichende Zahl, räumliche Geschlossenheit, eine gemeinsame Sprache – bzw. die Möglichkeit der Entwicklung einer nationalen Hochsprache, eine eigene Führungsschicht mit der Fähigkeit, politische Interessen zu formulieren - vor allem aber fehlte der Wille, eine politische Zukunft innerhalb des osmanischen Systems aufzubauen. Die Levantiner waren eine unpolitische Gruppe. Pass und Schutzbrief wurden als Rückversicherung für die soziale und wirtschaftliche Existenz verstanden, und so zogen die Levantiner es vor, das von ihren Schutzmächten propagierte neue Identitätsmuster äusserlich anzunehmen. Die aus dem Mittelalter stammenden Kapitulationen waren im Zeitalter des Nationalstaates zu einem für das osmanische Reich wie die europäischen Mächte ärgerlichen Anachronismus geworden, ebenso überholt wirkte zu Beginn des 20. Jhd.s der rein konfessionelle Identitätsbezug der Levantiner. Die gesellschaftliche Modernisierung ging über die Levantiner hinweg - sie zerstörte die Gruppe nicht, eher liess sie sie verschwinden. Den nach 1923 verhängten weitgehenden Berufsverboten für Ausländer und der ausländerfeindlichen Gesetzgebung der jungen türkischen Republik mussten die meisten Levantiner weichen.




1. Typische Namen waren um  1810: aus Frankreich stammend: Arlaud, Beuf, Boyer, Castagne, Crespin, Dalmas, Dejean , Gravier; Inselkatholiken bzw. in Konstantinopel geborene Katholiken: Babacari, Ballari, Caro, Castelli, Corpi, Corpi- Giustiniani, Dapei, Dhamalà, Drossa, Gallici, Lapiera, Livadhari, Magnifico, Mamachi,  Marcello, Marcopoli, Mazzolini, Peri, Privileggio, Rugieri, Salgani,  Sari, Stefano, Timoni, Xanthachi.